Wie funktioniert das?
Wie hat eine Band, die dieses Jahr ihr 19. Album innert 14 Jahren veröffentlicht, noch Zeit, um fast dauernd auf Tournee zu sein? Das wird wohl auf ewig das Geheimnis von John Dwyer bleiben, dem hyperaktiven Frontmann von Thee Oh Sees aus Kalifornien. Dwyer schreibt die Musik, die Texte, er produziert die Alben, gibt sie im eigenen Plattenlabel heraus. Am Freitag führte er seine nimmermüde Band ins Bad Bonn.
Thee Oh Sees live, das bedeutet Rock’n’Roll im Übermass. Das Bad Bonn erlebt ein leidenschaftliches Dröhnen und Pfeifen. Enthusiastische und schweissnasse Musiker, ein Publikum im Rausch. Bald keimt das Gefühl auf, schon lange nicht mehr so viel Energie auf einer Bühne gesehen, schon lange nicht mehr so ausgeklügelte, prallreife Rocksongs gehört zu haben.
Durch die Gitarre schreien
Dass ausgerechnet Thee Oh Sees all das haben, was eine Rockband im Jahr 2017 zu brauchen scheint, um sich vom digitalen Strudel abzuheben, liegt wohl weniger am Zufall als am Ausnahmetalent und an der harten Arbeit John Dwyers. Was also macht er richtig?
Da ist zuerst einmal seine E-Gitarre. Sie ist farblos und transparent, und damit so allürenfrei und ehrlich wie die Musik von Thee Oh Sees. In ihrem Innern ist jedes dünne Kabelchen sichtbar, jede Lötstelle.
Aussergewöhnlich wie die Gitarre an sich sind die Töne, die John Dwyer ihr entlockt. Oft klingen sie wie Schreie, wie schrille Anfeuerungsrufe ans Publikum, mit Buchstaben schwierig auszudrücken. Vielleicht „Wyüi!“.
Seine durchsichtige Gitarre trägt John Dwyer hoch an die Brust gegurtet. Bestimmt einen Meter höher als mancher Heavy-Metal-Gitarrist; fünfzig Zentimeter über dem Gitarrentraghöhenormalpegel der Neunziger- und Nullerjahre; sogar eine gute Handbreite über Beatles-Niveau. Dwyer macht sich so zum optischen Sonderfall: Bei ihm scheint alle Kreativität aus der Tiefe seiner rechten Achselhöhle zu sprudeln, unter die er sein Instrument klemmt. Der Rock’n’Roll der späten Zehnerjahre, so scheint es, gehört nicht auf Hüft-, sondern auf Achselhöhe.
Ein sonderbarer Titeln
Auch bei der Besetzung seiner Band schert Dwyer aus dem Mainstream aus: Er hat nicht einen Schlagzeuger, sondern zwei. In einem Interview mit dem Online-Musikmagazin Bearded begründete Dwyer das nicht etwa musikalisch, sondern optisch: „Es ist grossartig anzusehen, wenn es zwei Drummer gibt. Man sieht so etwas viel zu selten.“
Was man sonst auch selten sieht, sind Grammatikfehler in Albumtiteln: Thee Oh Sees veröffentlichten 2016 die beiden Alben A Weird Exits (Ein seltsamer Ausgänge) und An Odd Entrances (Ein merkwürdiger Eingänge).
Sowieso merkwürdig ist der Bandname Thee Oh Sees, das The hat ein e zu viel. Für das nächste Album, so kündigte Dwyer kürzlich an, wolle die Band ihren Namen ändern. Es wäre das sechste Mal.
Nichts hinzuzufügen
Nach einer sichtlich anstrengenden Show in einem immer heisser, immer stickiger werdenden Bad Bonn verschwinden Dwyer und Band hinter der Bühne und kommen nicht wieder. Eine Zugabe braucht niemand, weder Musiker noch Publikum. Das ganze Konzert hatte (um es mit einem Eishockeymatch zu vergleichen) die Intensität eines Kantersiegs – wozu dann eine Verlängerung?
Nur einer der Schlagzeuger gesellt sich noch zu den Fans und erzählt in drei Worten, der Frontmann sei hinter der Bühne soeben kollabiert:
„John passed out.“
(Dieser Text ist am 12. Juni 2017 in den Freiburger Nachrichten erschienen.)
(Und so macht es, wenn’s Wyüi! macht.)
Was habe ich mich über ein Lebenszeichen bzw. über einen neuen Beitrag von Dir gefreut!
Und zu den Thee Oh Sees: Dein Beitrag hat – wie immer – bei mir Neugier geweckt und ich habe mir auf YouTube einen Live-Mitschnitt angesehen. Im wienerischen Sprachraum fällt mir nur ein „Oag…“ ein. So wie John Dwyer auf der Bühne leibt und lebt, kann ich es mir gut vorstellen, dass er am Ende des Konzerts nichts anderes tun kann als zusammenzubrechen.
Liebe Grüße
Sori
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Und er hatte den ganzen Abend, was wohl auch leicht kollapsbegünstigend war, Rotwein aus der Flasche getrunken.
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Hui, Rock’n’Roll pur!
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