Keine Schuhe? Du schwörst mir, du hast noch nie Schuhe besessen? Keine Schuhe, nicht als Kind, nicht als Erwachsener?
Die Nationalbibliothek François Mitterrand in Paris ist eine der grössten und grossartigsten der Welt, sie besitzt vierzig Millionen Bücher, einen eigenen Wald und eine Sonnenterrasse — und so erstaunt es wenig, dass ebendiese Sonnenterrasse ein Schauplatz für grossartige, druckreife Gespräche ist, man braucht nur zu lauschen.
Die Frau, die wenige Meter hinter mir in ihr Handykopfhörermikrofon flirtet, ich schätze sie auf knappe fünfundzwanzig Jahre, telefoniert mit einem Menschen in einem afrikanischen Land. Vermutlich ist es ein Mann, und sie kennt ihn kaum. Seine Familie ist katholisch, als Kind machte man ihn zum Messdiener, wie alle Jungen in seinem Dorf, mit achtzehn stieg er aus, er muss es ihr schwören. Tu jures? Sie wiederholt offenbar alles, was er sagt, und dann muss er all das schwören. Er hat eine kleine Schwester und kein einziges Paar Schuhe. Das ist unvorstellbar, sagt die Frau, und dann schimpft sie. Sie sei unzufrieden mit dem Gespräch: Wie soll ich dich kennenlernen, du gibst ja kaum Antwort! Würdest du mehr sprechen, wenn wir uns gegenüberstünden? In echt, meine ich.
Das Gespräch flacht an dieser Stelle massiv ab, kein Wunder. Meine Gedanken schweifen hinweg, ich denke an Menschen, die Schuhe besitzen, einige davon sind weltberühmt. Einem solchen Menschen bin ich vor wenigen Stunden gegenübergestanden, an der U-Bahn-Station Passy, Linie sechs — dieser Mensch war Christine Lagarde. Wir standen uns gegenüber und schwiegen. Aus unterschiedlichen Gründen. Christine Lagarde nahm mich nicht wahr, oder sie ist eine Meisterin darin, es sich nicht anmerken zu lassen.
Ich meinerseits wollte die Chefin der Europäischen Zentralbank um ein gemeinsames Selfie bitten, wusste jedoch nicht, was ich mit einem solchen Selfie hätte anfangen sollen, halte ich doch die Existenz von Instagram für ein böses Gerücht. Dazu kommt der andere, entscheidende Punkt: Christine war an dem Tag besser frisiert als ich, sie hatte ganz offensichtlich einen good hair day. Besser angezogen war sie auch. Und auf ein beschämendes Selfie hatte mein Selbstwertgefühl keine Lust.
Doch, doch, doch, wir wissen hier auch, was Fussball ist! Keine Sorge, wir kennen das. Ich mag Messi, den liebe ich irgendwie. Aber wenn ich mich für einen Klub entscheiden muss, ist es Real. Real ist in meinem Herzen. Also ganz klar Real, und du? — Okay, Paris Saint-Germain, das ist in Ordnung. Auch wenn mich der eine Spieler nervt, dieser… ach, der Name ist mir entfallen, aber PSG ist okay, keine Sorge.
Sie steht auf, gräbt in ihrer linken Hosentasche, findet Zigaretten, gräbt in der rechten, findet ein Feuerzeug.
So bequem kann ein Metallstuhl sein, denke ich. Ich bin voller Anerkennung für diesen Stuhl, voller Lob. Die Rückenlehne ist starr und fünfundvierzig Grad nach hinten geneigt, voilà!, da oben ist der Himmel, voilà!, darum tragen hier alle Sonnenbrillen.
Die Frau telefoniert und raucht, raucht und telefoniert. Du bist ein komischer Typ. Sie spricht weiter in den kleinen, weissen Knopf am weissen Kopfhörerkabel, und auf einmal schreit sie: Hör zu, ich weiss, dass du das im Scherz gesagt hast, aber über Pornografie will ich nicht sprechen. Ihr seid alle gleich. In die Kirche gehen, beten. Und meine Fragen nicht beantworten. Hast du eigentlich Brüder? Leben die alle noch im Land? — Hm.
Jetzt hör mal, soll ich dir eigentlich auch mal etwas von mir erzählen? Interessiert dich, ob ich Geschwister habe? Ich habe zwölf Geschwister. Okay, das war jetzt auch ein Scherz. Ich habe zwei. Sie leben bei meinen Eltern in Afrika, ich bin das älteste Kind und ganz alleine in Paris, drei Jahre schon, ich studiere. War früher immer Klassenbeste und blablabla. Kannst du dir eigentlich irgendetwas davon merken?
Dem Telefongespräch folgend, mich über unsere Welt wundernd, habe ich jetzt bestimmt eine halbe Stunde in den Himmel gestarrt. Oder das Doppelte oder Dreifache. Die gigantische Glasfassade der vier gigantischen Bibliothekshochhäuser reflektieren das gigantische Licht der gigantischen Sonne über uns.
Ich stelle fest, dass ich an den Füssen schwitze. Ich ziehe die Schuhe aus. Ich sollte mich dringend eincremen und blablabla.