Eine Brücke muss halten, eine Meinung nicht

Gedichte, die sich nicht reimen, in keiner einzigen Zeile? Ich habe so etwas immer schon merkwürdig gefunden – nach einer langen Phase, in der ich noch gar nicht wusste, dass etwas ohne Reime als Gedicht durchgeht.

Etwas lockerer bin ich diesbezüglich sicher geworden. Und doch mag ich Reime sehr, insbesondere wenn sie überraschend sind (nicht: I fly – to the sky – I feel the love – from above…, also nicht 99% der englischen Songtexte, die sich deutschsprachige Musiker einfallen lassen).

Ein Leser hat mich dafür gelobt, dass in einem meiner eigenen Gedichte ein Nasenspray vorkommt, der sich auf Ai Weiwei reimt, und da war ich stolz, dass diese zwei kleinen Zeilen den Leser vielleicht zu einem kleinen Schmunzeln veranlasst haben, innerlich, oder sogar innerlich und äusserlich, mit Mimik und Gesichtsmuskeln und so.

Die Buchmesse hat mich geändert. So, wie einen alles ändert, was man tut und deswegen erlebt. An der Buchmesse habe ich über Gedichte gestaunt, die sich nicht reimten und mich trotzdem so weit brachten, dass ich dachte und fühlte: Das ist ein Gedicht.

Pensionär

Er ist 88
war Straßenbauingenieur

Trotz Faible für
die Naturwissenschaften:
Seine Philosophen
hat er gelesen
Platon, auch Descartes.
Aber den Durchschnitt
der Geisteswissenschaftler
Schöngeister nennt er sie auch
die hält er heute noch
für geschwätzig und flach.
Hier geht es um Wahrheit
dort um Verführung
hier ja oder nein
dort Blumiges
viel Wind und Worte.
Eine Brücke muss halten
eine Meinung nicht.

Aber einst
hatte er ein Problem
das war technisch nicht zu lösen.
Beim Bau der Autobahn
zwischen Hamburg und Berlin
war er zuständig
für den Grenzabschnitt.
Man baute aufeinander zu,
von beiden Seiten.
Als sie sich trafen
die langen Maschinen
blieb eine Lücke.
Einer musste auf Feindesgrund
um sie zu schließen
kein Wahr und kein Falsch
half bei der Entscheidung.

Das Gedicht stammt von Stefan Sprenger (erschienen im Buch „Vom Dröhnen“, Edition Eupalinos), wieder von einem Liechtensteiner; der Fürst, so glaube ich je länger, je mehr, hält sich ein Volk von Dichtern.

Mit Gedichten kann man – ausserhalb des Fürsten Regentschaftszone – kaum mehr auftrumpfen; wir sind (die allgemeine Gedichtverweigerung räumt die letzten Zweifel diesbezüglich aus:) keine alten Griechen. Gedichte interessieren nicht mehr viele, sie beeinflussen nicht die öffentliche Meinung.

Wer ist daran schuld: die Gedichte oder die Menschen? Dazu äussert sich – wen man an der Buchmesse nicht alles kennenlernt! – der japanische Dichter  谷川 俊太郎 (das ist kein ö, sondern ein langes, offenes o am Ende des Vornamens) in seinem Buch Minimal, das mir wegen seiner maximalen Aussagen in Erinnerung geblieben ist – und wegen seines Wahnsinnscovers, es ist einfach weiss.

Sich verweigern

Der Berg
verweigert sich nicht
dem Gedicht

auch nicht die Wolke
das Wasser
die Sterne

es ist immer
der Mensch
der sich verweigert

aus Furcht
aus Hass
aus Geschwätzigkeit

 

 

3 Gedanken zu “Eine Brücke muss halten, eine Meinung nicht

  1. Gedichtverweigerung? Das glaube ich nicht. Es ist wohl eher so, dass es keinen Markt für Lyrik gibt, aber gelesen wird sie trotzdem. Gerade im Netz. Und wenn einmal Rilke oder Hesse zitiert werden, dann finden sich oft sehr positive Reaktionen. Aber auch moderne Autoren werden wahrgenommen. Nur Geld, das lässt sich damit nicht mehr verdienen.
    Und nebenbei: Die Gedichte, die mich bewegen, denken lassen, sind toll. Aber ich mag auch die andere Fraktion, die mit Ringelnatz und Morgenstern, Wilhelm Busch und Robert Gernhardt. Und manchmal gibt es Künstler, die beides schafffen.

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    1. Wenn irgendwann für Spoken-Word-Darbietungen 30 bis 100€ bezahlt werden, wie etwa für Konzerte, dann bin ich wieder zuversichtlich.

      Bis dahin bedeutet „kein Markt“ doch irgendwie, dass das Interesse klein ist. Vergleichsweise, meine ich.

      Aber du bist positiv eingestellt, was die Zukunft der Lyrik betrifft. Das gefällt mir, und ich versuche, das auch zu werden.

      Gefällt 1 Person

  2. Schöne Lyrik, schöne Reflexionen. Mir ging es mit dem „Entdecken von Gedichten, die sich nicht reimen“ ähnlich, als ich die Liebesgedichte von Erich Fried entdeckte. Und: Dein Nasenspray-Reim ist aber auch wirklich klasse …
    Liebe Grüße!

    Gefällt 1 Person

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