Kommen werden gehen können bleiben müssen

Was ist mit all jenen Menschen, die ebenfalls flüchten würden, wenn sie könnten? Die nur im Kriegsgebiet bleiben, weil sie nicht wissen, wie sie es lebend bis zur Grenze schaffen sollen. Und sich darum entscheiden (falls man das eine Entscheidung nennen will), lieber sterbe ich zu Hause. Will heissen: Lieber werde ich hier erschossen oder von einer Bombe in Fetzen gerissen, als dass es mir auf der Flucht passiert. Prägen diese Menschen unsere Gedanken? Wenn ja: Prägen sie sie mehr oder weniger als die Geflüchteten, die es in unsere Länder und somit (vielleicht) in die Sicherheit geschafft haben?

In den letzten Tagen habe ich das Buch Die Flüchtlingsrevolution gelesen, herausgegeben von Marc Engelhart. Die Autoren des Buches, allesamt erfahrene Auslandkorrespondenten, haben Menschen zugehört, die den Krieg erlebt haben – oder ihn noch immer erleben. In vielen Ländern auf der Welt, bei weitem nicht nur in Syrien, Irak oder Afghanistan. Manchen der porträtierten Menschen gelang die Flucht. Sie dauerte oft Monate. Oder Jahre. Im Innern der Menschen lebt die Flucht weiter, und in den meisten Fällen führte sie nicht nach Europa. Beeindruckt hat mich jede dieser Geschichten. Aber zurück zur Einstiegsfrage: Was ist mit jenen, die bleiben, den täglichen Horror weiter ertragen müssen? Dieses Buch machte mir noch klarer, dass sie die Mehrheit sind. Ihnen gelingt die Flucht nicht. Weil sie in ihrem Land, in ihrer geographischen oder persönlichen Situation, gar nicht gelingen kann.

„Wenn ich aus dem Haus gehe, erwarte ich tatsächlich, umgebracht zu werden. Die Gefahr lauert überall, jederzeit.“

Das sagt Nisma aus Aden, einer grossen Stadt in Jemen. Dort tobt ein Krieg, ähnlich verworren, ähnlich brutal, ähnlich tragisch wie jener in Syrien. Nisma ist eine junge Frau von 21 Jahren, seit Jahren passt sie auf ihre jüngeren Geschwister auf, ausser ihr ist niemand mehr für die Kleinen da. So ist der Krieg. Die Flucht ins Haus der Tante, später in jenes der Grossmutter, waren Wettläufe mit dem Tod. Obwohl es nur wenige Kilometer waren. Krieg in Jemen, das heisst: Viele Tage ohne Strom und fliessend Wasser. Die Regale in den Geschäften praktisch leer. Ein Päckchen Mehl kostet 70 US-Dollar. Reis essen, Tee trinken, warten. Auf ein Wunder. Und auf den Tod.

Warum flüchten Jemeniten nicht, wie es viele Syrer und Iraker tun? Der Sprecher des UNO-Flüchtlingshilfswerks:

„Wir befinden uns geographisch in einer schwierigen Lage.“

Was das heisst, wird im Buch genauer erklärt:

Die beiden Landesgrenzen zu Saudi-Arabien und Oman sind schwer zu erreichen, sie befinden sich inmitten der Wüste, und ihr Übertritt ist nur einigen wenigen vorbehalten. Mauern und hohe Sicherheitszäune machen es fast unmöglich, sie illegal zu überwinden.

Kommt dazu, dass niemand jemenitische Flüchtlinge akzeptiert. Okay, ein paar Staaten schon:

Malaysia ist das einzige Land, das noch grosszügig Visa für Jemeniten erteilt. Doch der Weg dorthin ist kompliziert und zu teuer. Zu teuer für die meisten Jemeniten, von denen bereits vor dem Krieg mehr als die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze lebte. Bleibt theoretisch die Seeroute nach Afrika. Dschibuti, Äthiopien, Somalia und Sudan heissen Jemeniten als Asylanten willkommen.

Also Länder, in denen grösstenteils auch Kriege herrschen.

Jemen ist nicht das einzige Flüchtlings- oder Nichtflüchtlingsproblem, das im Buch erläutert wird. Weitere Beispiele handeln von Menschen aus Kongo, Somalia, Syrien, Irak, El Salvador, Tuvalu, den Philippinen, der Landbevölkerung in China und den europäischen Roma. Das Botschaft all dieser Tatsachenberichte: Unser Umgang mit flüchtenden Menschen dürfte entscheidend sein dafür, wie es sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten anfühlt, auf dieser Welt zu leben. Und ganz sicher auch unser Umgang mit jenen, die nicht flüchten.

Marc Engelhardt (Hrsg.): Die Flüchtlingsrevolution. Wie die neue Völkerwanderung die ganze Welt verändert. 351 Seiten. Pantheon-Verlag, 2016.

2 Gedanken zu “Kommen werden gehen können bleiben müssen

  1. Ich habe es geliked. Nicht, weil mir die Situation gefällt, sondern weil der Artikel Situationen neben den Schlagzeilen aufdeckt.
    Länder, in denen selbst Krieg und Unsicherheit herrscht, nehmen andere auf, die in Not sind. Welch Armutszeugnis für uns, die wir seit gefühlten ewigen Zeiten diskutieren und über Quoten debattieren.

    Gefällt 1 Person

    1. Es wird aus einer Kleinstadt im Libanon berichtet: Die 17’000 Einwohner haben 3’000 Geflüchtete aufgenommen. Das verändert die Gegend markant, aber irgendwie scheint es in diesem Fall zu klappen.

      Gefällt 3 Personen

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