Zu spät kommt man immer. Ist man Papa oder Mama, dann kann man noch so aufmerksam durchs Leben – also meist durch die chaotische Wohnung – gehen, am Ende passiert hinter dem eigenen Rücken immer genau das, was einem gerade noch gefehlt hat.
Ein Kind hat heimlich eine Wand bemalt. Pure Leidenschaft auf zwei, drei Quadratmetern verteilt. Oder es hat – mit seinem Ellbogen, der sowieso nicht auf den Tisch gehört – das Saftglas ausgeschüttet, das man eben erst bis zum Rand gefüllt und liebevoll mit einem Kinder-Strohhalm dekoriert hat („Nein, Papa, die Farbe wähle immer ich!“). Nun bahnt sich der orangefarbene, klebrige Nektar seinen vorbestimmten Weg. Saft weiss intuitiv, wo die heiklen Stellen sind, er dringt zwischen antikem Tisch und ehemals weisser Wand hindurch, fliesst auf den Stuhl mit dem frisch gewaschenen, ebenfalls weissen Sitzkissen. Der Rest tropft auf den Boden, wo er sich festklebt, zuverlässig, sofort.
Nun putzt Papa die ganze Sosse weg. Das dauert immer länger, als er glaubte (die Haushaltpapierrolle ist leer, von der Ersatzpackung im Küchenschrank zeugt nur noch eine leere, zerrissene Plastikfolie, die Ersatzersatzpackung befindet sich im Keller, ein Lappen oder Toilettenpapier wären mögliche Alternativen, aber das Putzen mit ihnen ungleich mühsamer, denn drei Deziliter Saft, das ist viel, viel Flüssigkeit), und es ist nicht so, dass der Putzende dafür irgendeine Anerkennung erhält.
„Es wird kein Kamerateam von den Abendnachrichten kommen, um über unsere Leistung im Privaten eine Dokumentation zu drehen“, schreiben Alexa Henning von Lange und ihr Partner Marcus Jauer im Buch Stresst ihr noch oder liebt ihr schon?. Es ist soeben erschienen und soll vermutlich Eltern trösten. Die beiden haben fünf Kinder und wissen, wie sich Chaos anfühlt.
Wenn man sich vom alltäglichen Familienwahnsinn losreissen, sich am liebsten scheiden und in einem Boot auf eine einsame Insel treiben lassen möchte, erinnert man sich meist noch rechtzeitig an einen Grund, warum man besser doch alles so lässt, wie es ist. Die beiden Autoren präsentieren wichtige Argumente für das Leben als Familie, widmen jedem ein Kapitel: Single sein ist auch nicht besser. Alleinerziehend noch weniger. Wenn man sich anschreit, fällt immerhin das Zuhören leichter. Nach einer Scheidung könnte, auweia!, der Wunsch nach Familie zurückkehren. Familie hilft bei der Selbstfindung (Familienlose seien länger auf der Suche nach einem inneren Zuhause, gut zu erkennen an exzessivem Reiseverhalten).
Die Autoren schreiben auch über ihr Leben als Paar. Ja: Eltern haben eine Paarbeziehung. Auch wenn sie dies im Alltagschaos oft selber fast vergessen. Und wie bei allen Paaren können kleinste Details sich zu echtem Stunk hochschaukeln. Papa räumt die Abwaschmaschine nach einem anderen System ein als Mama: Bumm, eine Emotionsgranate geht hoch!
Alles kein Problem, sagen die Buchautoren; sie plädieren für alles, was Rock ’n‘ Roll in die Familie bringt. All dies mache den Alltag vielseitig und erlebnisreich. Das Chaos löse sich irgendwann von selbst auf, etwa wenn das Kinderzimmer des Sohnes plötzlich in nie dagewesenem Glanz erstrahle. Dies ausgerechnet in der – zu Unrecht? – als schwierig abgestempelten Phase der Pubertät: Dann nämlich, wenn die erste Freundin ihren Besuch ankündigt…
Der Saft ist jetzt aufgeputzt, der Fussboden klebt nicht mehr (für einige Minuten, meist). Den Fleck, den man von der Wand nicht mehr ganz wegbringt, solle man freundlich begrüssen: Hallo. Schön, dass du bei uns bist!
Jetzt gilt es aber noch, die Höhlenmalerei (hallo, Höhlenmalerei!) von der Wand des Kinderzimmers zu entfernen. Am besten tue man dies sofort, schreiben Alexa Henning von Lange und Marcus Jauer.
Nein, natürlich raten sie das Gegenteil: Wenn Zeit da ist, kann man die Wand ja irgendwann mal übermalen. Und sonst halt nicht.
Alexa Henning von Lange, Marcus Jauer: Stresst ihr noch oder liebt ihr schon?, 2016, Gütersloher Verlagshaus, 190 Seiten.
Weitere spannende Bücher: zum Beispiel dieses hier oder wieso nicht das da.