Goal!

I.

Er hatte sein Land noch nie verlassen. 

Einmal war er nahe dran gewesen: Einen Vortrag hätte er halten sollen, kurzfristig einen Kollegen ersetzen, in Antwerpen. Das klang nach Holland, fand er. Lag aber in Belgien, das bestätigte ihm der Weltatlas, dem er ein sicheres Urteil zutraute. 

Er kannte den Atlas gut. Blätterte ihn auch bei anderen Gelegenheiten durch, ergründete diese Welt auf Papier, untersuchte sie stundenlang, jede Seite ein exotisches Tier. Dieser Atlas war – auch wenn er die Formulierung verachtet hätte, zu viel Superlativ, zu viel Pathos – das Buch seines Lebens. Er forschte darin ohne Grund, verschwendete Zeit damit, so hätten es wohl die meisten ausgedrückt – hätte jemals irgendwer von seinem Tun erfahren. 

Wäre er schlagfertig oder wenigstens etwas eitel gewesen, hätte er gekontert: Ich komme in der Welt herum, ohne reisen zu müssen. Denn das tat er, wenn er seinen Atlas auskundschaftete: Er reiste dann – nennen wir ein typisches Beispiel – nach Grönland, Seite hundertzweiundzwanzig, Hauptstadt Nuuk. Unter dem Ortsnamen Nuuk stand ein Hinweis, kursiv und in Klammern: (Dän. Godthåb). Ein reizvoller Name, Godthåb, dachte er dann, und malte sich aus, wie man auf diesen Namen gekommen war und was er bedeutete. Gottes Hafen vielleicht, oder Guter Hafen, und dann stellte er sich vor, wie er im Landeanflug wäre auf diese Stadt. Hörte das Propellergeschnatter des Air-Greenland-Flugzeugs, fühlte seinen Schädel vibrieren, seinen Hintern und seine Fusssohlen. Und er prüfte – beide Augen fest zugekniffen, da die Sonne ihn durchs Flugzeugfenster blendete –, ob die Felsen neben der Landebahn unter Schnee und Eis begraben lagen. Oder ob sich die Felsen sommerlich kahlgrau präsentierten und ein paar struppige Sträucher sich aus den Felsritzen streckten, der arktischen Sonne entgegen. Und er wägte ab, welche dieser Kulissen wohl wahrscheinlicher wäre. 

Diesmal also Antwerpen, Seite dreiundsechzig. An der niederländischen Grenze gelegen, immerhin das. Sein Gefühl hatte ihn nicht vollkommen im Stich gelassen. Vergnügt entdeckte er die Namen der Nachbarorte. Er las sie sich laut vor: Krabbendijke, Kloosterzande, Wuustwezel, Saftingen. Was sich da vor ihm auftat, war toponomastische Zauberkunst, verteilt auf zwei Länder. Dazwischen eine Grenze. In seinem Atlas war sie nicht mehr als ein dünner, sich ungelenk windender Strich. Jemand, so viel war klar, musste die Grenze unmotiviert in eine bereits vollendete Landkarte gezeichnet haben. Zittrig, zufällig, wirr.

II.

Es war dann nichts daraus geworden, aus Antwerpen. Termingründe, hatte er in einer knappen E-Mail erklärt. Termingründe gingen immer. Und den Vortrag hielt dann vielleicht ein anderer. Vielleicht auch keiner, was tat das zur Sache.

III.

Was tust du da drin? Seine Frau, draussen vor dem Arbeitszimmer.

Fünf Minuten noch! Er zur Frau, keine Antwort erwartend. In seinem Kopf: Er selbst mit Wanderschuhen, Rucksack, Strohhut. Andorra la Vella, Engolasters, Engordany, Xixerella. 

Ich habe eine Frau, die mich nicht versteht, wenn ich sage: toponomastisch.

IV.

Was tust du da drin? Der Sohn. 

Komm rein! Man kommuniziert durch geschlossene Türen in diesem Haus. Im Atlas: Obersiebenbrunn, Purkersdorf, Fischamend.

Kann ich reinkommen?

Mein Sohn muss schwerhörig sein, an den Ohren oder anderswo. Herein!

Der Zwölfjährige betritt das Arbeitszimmer. Wieso, Papa, schaust du so grantig?

Die meinen, ich solle ins Ausland.

Wann?

Er antwortet nicht sofort. Der Sohn stellt die falsche Frage zuerst. Wohin oder warum, das wären Einstiegsfragen. Aber doch nicht: Wann.

Sag, wann?

Ein Büroausflug. Wie heisst die Hauptstadt von Österreich?

Wien.

Schwerhörig ist er, dumm nicht. Was er liest, das behält er. Ja, es ist Wien. Zehn Stunden im Auto, die ich mir sparen kann. Dieselben Gesichter wie bei der Arbeit, dieselben Körpergerüche, dieselben Zündeleien.

Du könntest fliegen.

Die anderen können fliegen, fahren, rückwärtsrobben, ich tu gar nichts. Ich habe zu tun. Sollen die doch Schnitzel fressen und über Wein fachsimpeln. Explosive Tannine, wollüstige Preiselbeeraromen im hinteren Gaumen. Sollen die doch Fussball schauen, auf eine Wiese runterjohlen, Polypropylenschalen unter ihren Ärschen, mich brauchen sie dazu nicht.

Man bereut nur, Papa, was man nicht getan hat.

V.

Einundfünfzigtausendvierhundertachtundzwanzig Menschen. Einer davon: er. Dass der Schiedsrichter Roberto Rosetti hiess – der Stadionspeaker, als müsse er einen italienischen Zirkusclown ankündigen, rollte jedes der drei R unnötig lang –, versetzte ihn in entzücktes Grübeln. Nationalhymnen scherbelten aus Lautsprechern, deren Klangqualität dem Anlass unwürdig waren, wie er fand. Wahrscheinlich wäre dieser Ernst Happel erbost über so viel akustische Unverschämtheit in seinem Namen, wäre Happel noch am Leben und hiesse dieses Stadion bereits wie er. Gab es Stadien, die den Namen eines Lebenden trugen? Dieses Gedröhne. Wäre die Sicht so schlecht wie der Ton, kein Einziger sässe hier, EM-Finale hin oder her. 

Deutschland, Deutschland über alles! Sein Sitznachbar holte ihn zurück in die Realität, die Realität der anderen. 

Warum bin ich nicht schwerhörig.

VI.

Wir fahren los ins Weingut, Kollege. Acht Uhr haben wir gesagt, es ist jetzt acht Uhr und vierzehn Minuten. 

Hör zu, Kollege. Du kommst jetzt raus, oder ich lasse das Hotelpersonal deine Tür öffnen.

Die herbeigerufene Ambulanz stellte seinen Tod fest, eingetreten wahrscheinlich noch vor Mitternacht. Der Kugelschreiber der untersuchenden Ärztin hinterliess auf einem offiziellen Formular der Republik Österreich die Personalien des Dahingeschiedenen, dazu ein paar Zahlen, neunundzwanzig, nullsechs, zweitausendacht. Auf der Rückseite ein dünnes Kreuz in einem vorgedruckten Kästchen: natürlicher Tod. So wird ein Leben abgepfiffen, zwei diagonale Strichlein in Königsblau.

VII.

In Nuuk sah man das Spiel bei abendlichem Sonnenschein und neunzehn Grad. Auf dem Parkplatz hinter der Stadtkathedrale, wo man eine beachtliche Kinoleinwand aufgebaut hatte, räkelte sich die Dorfjugend auf Klappliegestühlen. Drei Teenager-Mädchen in roten Trikots schwärmten kichernd für Fernando Torres, den Stürmer. Sein Tor an diesem neunundzwangzigsten Juni zweitausendacht würde später das Spiel entscheiden. Kein Bartwuchs, spöttelten ein paar ältere Männer. Wenn man dieses Milchgesicht in Spanien El Niño nenne, sage das alles, warf einer ein.

Die Mädchen starrten zur Leinwand, kniffen im ungewohnt warmen Sonnenlicht die Augen zusammen. Der Schnee des Frühlings war seit Wochen weg. Am Rand des Parkplatzes, wo der Asphalt aufhörte, wuchsen Preiselbeeren.

***

Was denkst du? Schreib zurück:

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s