Wehe dem, der durchschläft!

(erschienen in der April-Ausgabe 2016 von Wir Eltern)

Schlafen ist ein Menschenrecht, findet unser Kolumnist Marc Kipfer. Träumen auch. Dumm nur, wenn einen in der Nacht böse Rechtsanwälte stören.

Dieser Text ist ein Geständnis. Seit längerer Zeit mache ich mich – als Mann, Vater und Ehepartner – eines Vergehens schuldig. Eines Verbrechens. Ich tue es regelmässig, habe mich daran gewöhnt. Ich kann nicht anders, es hat halt irgendwann angefangen, und mir ist nicht klar, wie ich mich davon befreien soll. Von dem Laster. Von der Sünde, die mich begleitet, seit vier Jahren. 1460 Mal habe ich eine Grenze überschritten, die ein Familienvater nicht überschreiten dürfte:

Ich schlafe mit Ohropax.

Das muss man sich mal vorstellen! Lässt seine Kinder schreien, albträumen, zahnen, kränkeln. Lässt die Frau machen.

Nun, mein Fall ist etwas komplizierter: Ich bin nämlich nicht untätig, während ich schlummere. Natürlich scheint es so, rein äusserlich. Wenn der Papa daliegt, mit einem zufriedenen Gesicht. Ruhig atmet. Sich nicht regt, während um ihn herum der allnächtliche Wahnsinn beginnt:

Tochter findet Trinkflasche nicht (jammert), Sohn findet Nuggi nicht (weint), Frau findet Nuggi, findet Trinkflasche (Tochter trinkt mit lauten Schlucken). Frau legt sich wieder hin (Bett knarrt), Tochter findet Teddybär nicht (schreit), Sohn hat Nuggi wieder rausgespuckt (wimmert), Frau findet Teddybär auch nicht (ächzt), Tochter will anderes Stofftier (schluchzt), Frau steht auf (Bett knarrt), Sohn steht im Gitterbettchen ebenfalls auf (quengelt), Frau holt Stoff-Gorilla (seufzt), Tochter will sicher nicht den Gorilla (schreit), Sohn will aus dem Bett (hopst), Frau legt Sohn behutsam auf den Rücken (flüstert). Frau friert (bibbert), Frau sucht Bettflasche, Bettflasche ist kalt (Frau schnaubt), Tochter schläft ohne Stofftier ein (schnarcht), Sohn beruhigt sich (nuckelt), Frau kann nicht mehr einschlafen (flucht).

Diese Ereignisse kenne ich natürlich nur, weil meine Frau mir davon erzählt – ich schlafe ja.

Wie gesagt bin ich dabei aber nicht untätig, im Gegenteil: Ich kämpfe Nacht für Nacht eine ähnlich kräfteraubende Schlacht. Mit meinem Gewissen nämlich. Es ist streng, gegen gesellschaftliche Erwartungen anzuschlafen. Ein Mann soll nachts den Kindern gut zureden, ihre Nuggis suchen, wenn nötig Plüschtiere austauschen und die Bettflasche der Frau neu auffüllen. Stattdessen muss ich mich nachts mit der Justiz abgeben: Mir wurde schon vor längerer Zeit ein Prozess angekündigt wegen serienmässiger nächtlicher Drückebergerei. Seither ist mein träumendes Hirn zwischen den Gehörpfropfen nicht zu beneiden.

Neulich bin ich erstmals meinem Pflichtverteidiger begegnet. Er stellte sich als Herr lic. iur. Stöpsel vor. Ich müsse, befahl mir Herr Stöpsel, für meine Wiederholungstaten einen Grund angeben, der mich in ein besseres Licht rücke. Stöpsel war streng mit mir. Er drängte: «Kipfer, was bringen Sie zu Ihrer Verteidigung vor?» Und dann, in mitternächtlichem Leichtsinn, war ich viel zu ehrlich mit ihm: «Herr Stöpsel», sagte ich, «mein Beweggrund ist: Ich schlafe so gern.»

«Ui», sagte Stöpsel. Er kratzte sich am Hinterkopf, seine Haare bestanden aus leuchtgelbem Schaumgummi.
Er fragte: «Reue?»
«Keine!»
«Einsicht, wenigstens ein bisschen?»
«Null.»
Pflichtverteidiger Stöpsel, entmutigt, spielte seinen letzten Trumpf: «Sind Sie geistig nicht funktionstüchtig? Unmündig? Noch nicht volljährig? Irgendeinen mildernden Umstand müssen wir doch fin…»

An dieser Stelle bin ich aufgewacht, leider. Mein bestes Argument kam mir erst jetzt in den Sinn: Ein Verwandter von mir schläft, seit er Kinder hat, mit einem Militär-Gehörschutz. Und hat davon sogar schon Fotos herumgeschickt. Er ist ein bisschen stolz, glaube ich, und ihn lässt die Justiz in Ruhe… Kriegstaugliche Ausrüstung gegen harmlose Kindergeräusche. Das muss man sich mal vorstellen!

Marc Kipfer (33) ist Journalist und wohnt im Kanton Freiburg. Er ist (vor allem tagsüber) ein glücklicher Familienmensch. Seine nachtaktiven Kinder sind 1- und 4-jährig. www.schreibpla.net

3 Gedanken zu “Wehe dem, der durchschläft!

  1. Militär-Gehörschutz??? Wo, bitte, gibt es so etwas zu kaufen? Ich leide zwar nicht unter den nächtlichen „Störgeräuschen“ kleiner Kinder, aber in ganz in meiner Nähe befindet sich eine höchst laute Kneipe mit höchst rücksichtslosem Publikum…

    Gefällt 1 Person

    1. Ihr habt doch bestimmt auch so Bundeswehr-Outletläden, wo altes Material günstig verkauft wird?
      Bei uns müssen Männer zwischen 19 und 34, die keinen guten Grund haben, sich zu drücken, drei Wochen pro Jahr ins Militär, dazu jedes Jahr einmal „schiessen gehen“, also die Treffsicherheit unter Beweis stellen. Nicht schön ist das zwar, aber die Militärkopfhörer, wir nennen sie „Pamir“, hat darum so mancher bei sich zu Hause rumliegen – und das Gewehr mit dazu.

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