David Graeber hat mir gerade die Augen geöffnet.
David Graeber, dessen Buch Bürokratie vor mir liegt, während ich diese Zeilen schreibe, ein Taschenbuch in unschuldigem hellrosa.
David Graeber erklärt (so meine Kurzversion), warum wir einen Sonntagnachmittag damit verbringen, die Steuererklärung auszufüllen – widerwillig, trotz womöglich schönem Wetter und entgegen jeglicher Vorstellung von sonntagnachmittäglicher Lebensqualität.
Einfacher gesagt: Obwohl es uns ankackt.
Warum wir Formulare ausfüllen, wann immer der Staat oder eine Bank oder eine Versicherung oder die Schule der Kinder das von uns verlangt. Warum wir Parkbussen pünktlich bezahlen, auch wenn unser Auto niemanden gestört hat, ausser einen Polizisten.
Warum wir uns an Regeln halten, deren Sinn wir nicht verstehen oder nicht unterstützen.
Wir tun das, weil…
wir sonst mit Gewalt rechnen müssen! Weil man uns sonst körperlich wehtut.
Auf Seite 72 steht Graebers einleuchtendes Argument:
Meine Konzentration auf Gewalt, das räume ich ein, mag seltsam anmuten. Wir sind es nicht gewohnt, Pflegeheime oder Banken oder auch Krankenkassen als gewalttätige Einrichtungen zu betrachten – höchstens in einem sehr abstrakten oder metaphorischen Sinne. Doch die Gewalt, die ich hier meine, ist nicht abstrakt. Ich spreche nicht von Gewalt im konzeptionellen Sinn. Ich spreche wortwörtlich von der Gewalt, wenn jemand einem anderen einen Holzknüppel auf den Kopf schlägt. Bei allen diesen Institutionen handelt es sich um Einrichtungen, die Ressourcen innerhalb eines Systems von Eigentumsrechten verteilen, das Regierungen im Rahmen eines Systems regulieren und absichern und auf Androhung von Zwang beruht. „Zwang“ bezeichnet euphemistisch Gewalt, also die Fähigkeit, Menschen herbeizurufen, die Uniformen tragen und bereit sind, anderen anzudrohen, ihnen einen Holzknüppel über den Kopf zu ziehen.
Ich fülle also in stundenlanger Sklavenarbeit meine Steuererklärung aus und bezahle später den mehr oder weniger auf meiner Ausfüllarbeit basierenden Steuerbetrag, weil ich (bewusst oder insgeheim) weiss, dass sonst irgendwann – nach Monaten oder Jahren des Nichtausfüllens und Nichtbezahlens – bewaffnete Personen vor meiner Haustür auftauchen, mich mit roher Körperkraft in ein Polizeiauto zerren, meine Handgelenke aneinanderketten und mich ins Gefängnis stecken werden.
Papierkram ist Gewalt in anderer Form. Eine Vorstufe. Hatte ich mir vorher nie so überlegt. Nie zu Ende gedacht.
Aber es stimmt wahrscheinlich.
David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Goldmann-Verlag, 2017.
Im Frühjahr musste ich etliche Wochen lang einen erbitterten Kampf mit einigen deutschen Ämtern und Behörden ausfechten. Seitdem weiß ich, dass man zur Gewaltanwendung keine Knüppel oder Ähnliches benötigt. Man kann Gewalt auch sehr gut dadurch anwenden, dass man das Opfer monatelang immer wieder mit der Zusendung ein- und desselben Formulars piesackt, Unterlagen verlegt bzw. verschlampt, und eine ungeheuer langsame Postschnecke engagiert, die für die Zustellung eines Briefs über die Strecke von ca. zwei Kilometern sage und schreibe neuen Tage benötigt…
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Danke für deinen Kommentar (für den du ein Textfeld ausgefüllt hast; manche Informatiker*innen würden das „ein Formular“ nennen, vermute ich).
Ignoranz ist auch Gewalt.
Und beunruhigend finde ich, wen die Ignoranz wohl am härtesten trifft: Jene, die ihre Wünsche auf schriftlich-standardisiertem Weg nicht äussern, ihre Rechte nicht einfordern können: In der Schweiz, heisst es, seien geschätzte 16% der Erwachsenen funktionale Analphabeten — schon einfache Texte können sie zwar lesen, aber nicht vollständig verstehen. Die Hälfte dieser Personen sind in der Schweiz geboren, an Fremdsprachigkeit sollte es bei ihnen demnach nicht liegen.
Was tut dieser Sechstel der Bevölkerung, wenn Papiere verlegt, Antworten verzögert, Formulare immer wieder zugeschickt werden? Was ausser resignieren?
Der Autor Graeber ist Anarchist, das ist mir schon klar, und ich bin keiner — auch nach dieser Lektüre nicht. Aber ein Staat ist nur so gut, wie er seinen Papierkram anwenderfreundlich zu gestalten weiss — das erscheint mir als Zwischenfazit ganz vernünftig.
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So ein Schmarren!
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Graeber fragt: Welche anderen Gründe für den Gehorsam dem Staat gegenüber gibt es, als dass wir wissen, dass er schliesslich durchsetzen kann, was er will?
Ich finde, man kann das durchaus so sehen.
Wer sich zu fest, zu lange, zu konsequent widersetzt, bekommt es mit der Gewalt des Staates zu tun — auch mit körperlicher.
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