Es steht 0:0, es läuft die 92. Minute. Das gegnerische Team hat das Spiel dominiert, doch nun starten wir einen letzten Angriff.
Der Linienrichter übersieht unser klares Abseits. Sein Kollege, der Schiedsrichter, übersieht die Blutgrätsche unseres blutjungen Stürmers gegen den Torhüter. Der bricht sich – wie sich später herausstellen wird – das Wadenbein, und unser 1:0 (der Ball klatscht an die Latte, dann ans Hinterteil des am Boden sich wälzenden Torhüters und kullert über die Linie) zählt: Wir gewinnen und werden Meister.
Wie fest wird sich der junge Siegtorschütze freuen (es war sein erstes Tor überhaupt…), wenn sich die Euphorie des Moments verabschiedet hat? Wie glücklich wird ihn der Sieg machen?
Um die gleiche Frage (aber um wesentlich mehr als ein Fussballspiel) geht es im wohl meistgelesenen japanischen Roman aller Zeiten. Von Murakami Haruki ist er nicht, sondern von Natsume Soseki. Der hat ihn 1914 geschrieben, darum dürfte die deutsche Übersetzung recht mühsam zu lesen sein, hätte der Manesse Verlag aus Zürich das Werk nicht neu übersetzt. Hat er aber glücklicherweise gerade gemacht, und das Ergebnis liest sich so, als stamme das Buch aus unserem Jahrtausend. Okay, es kommen keine Smartphones vor, keine Superschnellzüge und keine Wolkenkratzer. Aber ansonsten…
Es geht um einen Mann, nennen wir ihn S., der ein Geheimnis mit sich trägt. Er druckst rum, erzählt es niemandem. Irgendwann gegen Ende kommt raus, was es ist. Er hat einen Freund verarscht. Der Freund war in eine Frau verliebt, und gestand ihm verzweifelt, dass er sich nicht getraue, dies der Frau mitzuteilen…
Das Problem: S. ist ebenfalls in diese Frau verliebt, genau so fest wie sein Freund, es steht also 0:0. Wie reagiert unser S. auf die neue Situation?
Er macht der Frau sofort einen Heiratsantrag. Sie sagt Ja. Sein Freund bringt sich um.
Auf dem Papier könnte man sagen: 1:0 für S.
Aber sein Leben ist daraufhin die Hölle. (Immerhin: Die Frau bleibt bei ihm.)
Darum geht es also in dem Buch. Was sonst alles mit S. passiert, wie er insbesondere Jahrzehnte später einen viel jüngeren Mann mit ins Schlamassel zieht, verrate ich nicht. Es ist sehr lesenswert.
Jedenfalls bin ich froh, Kokoro gelesen zu haben, bevor ich meine Freude an Büchern verliere. So weit ist es nämlich mit dem armen S. gekommen:
Er war früher ungemein belesen, doch aus irgendeinem Grund schwand mit der Zeit sein Interesse an Büchern – das hatte mir, wie mir jetzt einfiel, seine Frau einmal erzählt. Da dachte ich mit einem Mal nicht mehr an meine Arbeit, sondern fragte ihn: „Warum interessieren Sie sich nicht mehr wie früher für Bücher?“
„Das hat keinen besonderen Grund. Vielleicht rührt es daher, dass mir, wie ich heute glaube, die Lektüre auch noch so vieler Bücher keinen großen Gewinn bringt. Und dann…“
„Gibt es noch einen Grund?“
„Eigentlich nicht. Höchstens den, dass es mir früher peinlich war, wenn ich etwas, wonach mich jemand fragte, nicht wusste, ich jedoch neuerdings herausfand, dass es gar keine so große Schande ist, etwas nicht zu wissen. Da ist mir die Lust vergangen, um jeden Preis möglichst viel zu lesen. Kurz: Ich bin alt geworden.
Tja. Das ist erst der Anfang. Es kommt mit S. dann noch schlimmer.
Die Moral dieser Geschichte: Man überlege sich gut, wem man einen Heiratsantrag macht.
Und darüber hinaus: Man sollte im Leben nur jenen Erfolg anstreben, der einen nachhaltig glücklich macht.
Das gilt selbstverständlich auch für den Fussball!
Wenn die gegnerische Mannschaft einen ein ganzes Spiel lang dominiert hat, kann man sich in der 92. Minute eigentlich auch sagen: Mit dem 0:0 sind wir gut bedient; belassen wir es doch dabei.
Natsume Soseki, Kokoro. Kommentierte Neuausgabe, 2016, Manesse Verlag Zürich, 382 Seiten.