Wiederbelebung einer Maus

Auf den Kulturseiten von Schweizer Zeitungen gibt es Artikel, die entstehen so:

Ein Kulturveranstalter will Werbung machen für eine Veranstaltung, sagen wir: für ein Konzert (das schon in zwei, drei Tagen stattfindet und noch immer nicht ausverkauft ist). Er hat eine Idee für einen Artikel und meldet diese Idee der Kulturjournalistin (die meist Kulturjournalistin nebenher ist, beispielsweise nur am Donnerstag. Am Montag hat sie über die neue Polizeidirektorin geschrieben, am Dienstag über Hass auf Asylsuchende, am Mittwoch über Hass auf rote Ampeln und geschlossene Bahnschranken, und nun ist eben Donnerstag), und diese Kulturjournalistin lässt den Kulturveranstalter am Telefon reden, hört seinen Vorschlag und sagt: Nett, dass du anrufst, ja, klingt super, machen wir – ich habe übermorgen eh noch Löcher.

Löcher, das heisst: freier Platz in der Zeitung. Jedes Loch ist eine Bedrohung. Löcher gehören gefüllt, bis kein Loch mehr da ist. Papierfarbenen Raum haben Zeitungsmacher nicht gern, schliesslich will der Leser lesen, nicht in die Zeitung malen.

Löcher können entstehen, weil es viel, viel – in den Köpfen der Journalisten viel mehr als in den Köpfen der Leser – Pflichtstoff gibt. Anstatt also die ganze Zeitungsseite dem originellsten Text und dem imponierendsten Bild zu widmen (sich auf eine Eigenleistung zu konzentrieren), wird Originelles zusammengestaucht, weil in der Randspalte der kleine Auffahrunfall von vorgestern genug Platz haben muss, bei dem eine Fahrradfahrerin verletzt wurde – sagen wir: Ellbogenbruch – und die Strasse eine Viertelstunde lang gesperrt war (schliesslich haben die Leute das mitbekommen, dass dort Stau war – bei uns erfahren sie, warum).

Was nun oft passiert in den Redaktionen, ist das Umkehrte dessen, was passieren sollte. Es passiert das Paradoxe: Man weiss, dass es – neben dem grossen Loch für die Eigenleistung, das man schon irgendwie originell füllen wird – viele kleine Löcher für viel Pflichtstoff hat. Auf die vielen kleinen konzentriert man sich, denn es sind viele.
Darum ist die Kulturjournalistin dankbar, dass sie die Idee des Kulturveranstalters übernehmen kann, die da lautet: Schick mir Interviewfragen, ich leite sie dem Künstler weiter, der am Samstagabend bei uns auftritt, John Maus, das gibt ein originelles Interview für das grosse Loch auf eurer Kulturseite.

Die Kulturjournalistin ruft einen freien Mitarbeiter an, denn weder sie noch jemand anderes bei der Zeitung hat Zeit für dieses Loch – alle füllen bereits Löcher.

John Maus zu befragen, diese schöne Aufgabe wird also outgesourct, in diesem Fall an die Schreibmaschine vom Schreibplaneten. Die Fragen hatte ich schnell beisammen, denn John Maus – Google half mir, zu dieser Überzeugung zu gelangen – ist interessant.
Ähnlich interessant ist, was passierte, nachdem ich meine Maus-Fragen der Kulturjournalistin gemailt hatte. Sie hat die Fragen dem Kulturveranstalter gemailt. Dieser hat sie der Maus gemailt. Diese hat nie geantwortet.
Der Kulturveranstalter hatte anderes zu tun, als der Maus Druck zu machen. Die Kulturjournalistin hatte anderes zu tun, als dem Kulturveranstalter Druck zu machen, damit der der Maus Druck macht. Und die Schreibplanet-Schreibmaschine sah sich nicht dafür zuständig, der Kulturjournalistin Druck zu machen, sie solle dem Kulturveranstalter Druck machen, er solle der Maus Druck machen, die wohl irgendwo in Resteuropa gelangweilt auf einem Backstage-Sofa rumhing und für meine neun oder sogar neunzig weitere Fragen Zeit gehabt hätte, bevor das abendliche Konzert in, sagen wir, České Budějovice endlich begann, möglicherweise in der Paradox Dance Bar.

John Maus kann dieses journalistische Desaster nicht angelastet werden. Dass mein Fragenkatalog nie von ihm beantwortet worden, der Artikel deshalb nie erschienen, dafür der Schreibmaschine ein Ausfallhonorar bezahlt müssen worden ist, daran trägt schlussendlich niemand Schuld, und die Welt wird diesen kleinen Zwischenfall vergessen. Das Nichtzustandekommen eines möglichen musikphilosophischen Interview-Glanzstückes liess ein Loch entstehen, ein kleines nur, in einer kleinen Zeitung in einem kleinen Kanton in einem kleinen Land auf unserem kleinen Planeten. Das Loch, es wurde flink gefüllt, noch bevor draussen vor dem Redaktionsgebäude ein Windstoss ein fahrendes Fahrrad umblasen und einer Person einen cubito fracturae zufügen konnte.

Auf dem Schreibplaneten hingegen – einem Einfüllfederhalterbetrieb –, da hinterliess das unfertige Interview ein Loch, das adäquat zu füllen bislang niemand in der Lage war. Das Interview muss fertig werden. Zu spannend könnten die Antworten sein, um auf sie zu verzichten. Geschätzte Leserin, geschätzter Leser: Helft mir, diese als vorgeburtlich verendet registrierte und bereits ausfallhonorierte Maus wiederzubeleben.
Beantwortet diese neun Fragen und werdet mein persönlicher Popstar des Jahres und fucking heck of a music interview hero:

1. Danke, dass Sie sich Zeit nehmen für mich. Sie sind ein erfolgreicher Musiker, der sich oft dazu äussert, wie Musik heutzutage produziert wird. In einem Interview mit «Deutschlandfunk» (21. Oktober 2017) sagten Sie, dass Melodien, Harmonien und Akkorde immer unwichtiger werden in der Popmusik. Wichtiger werde, «wie der Sound klinge». Bitte erklären Sie das.

2. Warum findet diese Entwicklung statt?

3. Heisst das, es wird schwieriger werden, Songs mitzusingen, weil es keine Melodie mehr gibt, an die man sich erinnern kann?

4. Was ist mit Songtexten? Interessiert sich überhaupt noch jemand für Text?

5. Sie scheinen viel über Songwriting nachzudenken, gleichzeitig sind Sie ein politischer Philosoph mit Doktortitel. Macht Sie das zu einem intellektuellen Musiker?

6. Inwiefern kann Popmusik intellektuell sein, und inwiefern nicht?

7. In einem anderen Interview (mit stereogum.com am 24. Oktober 2017) erzählten Sie, Sie hätten für das neue Album eigene Synthesizer gebaut, damit der Sound anders klingt. Am Ende hätten Sie allerdings feststellen müssen, dass der Sound genau gleich klang wie bei Synthesizern, die es in Musikgeschäften zu kaufen gibt. Haben Sie wertvolle Zeit verschwendet?

8. Fragen Musikjournalisten zu oft, warum jemand so lange für ein neues Album gebraucht hat, und was zur Hölle er diese ganze Zeit über getan hat?

9. Sie sind nicht nur Musiker und Philosoph, sondern auch ein extremer Showman, wenn Sie auf der Bühne stehen. Ist dieses Showman-Gebaren nur ein Mittel, um Ihre Musik bekannter zu machen – oder gehört sowas tatsächlich zur Musik?

 

Anmerkung: Wer die Fragen auf Englisch gestellt bekommen möchte, kann sich melden. Ist alles bereit.

 

8 Gedanken zu “Wiederbelebung einer Maus

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