Die Fliege ist ein störendes Geräusch

Als ich einmal auf einer Landstrasse 93 fuhr statt der erlaubten 80, war die Polizei der Meinung, das sei gefährlich: Sie schickte mir später einen Einzahlungsschein, ich bezahlte 100 Franken. Das hätte einen schönen Tag auf einer Skipiste gegeben, Hörnli mit Hackfleisch und Apfelmus zum Mittagessen und einen Kaffee mit ohne Schnaps. Ich e-bankte das Geld ungern von meinem Konto weg, war mir aber mit der Polizei einig: Schneller als mit 80 auf Landstrassen umherzuhetzen, sollte verboten sein, finde ich. Das ist es sogar schon, also alles i.O. aus meiner Sicht. Die Busse: ärgerlich.

Mit einer Busse belegt werden nur teilweise Sachen, die gefährlich sind. Bussen gibt es auch für Verhaltensweisen, die die Öffentlichkeit, die selbsternannte, stören. Also ein Ärgernis nicht für den Gebüssten darstellen, sondern für den grossen Rest.

Ein Schweizer Kanton hat vorgestern das Betteln verboten. Wer dort auf der Strasse künftig anderen Menschen seine blosse Hand, eventuell durch einen Becher ergänzt, hinhält, auf diese Weise Kleingeld für sich selber sammelt, der zahlt unter Umständen für dieses Verhalten 100 Franken.

Ein richtiger Entscheid oder nicht? – Ich hatte noch gar keine Zeit gehabt, meine Hirnwindungen nach einer brauchbaren Meinung abzuscannen, da kam mir, tatsächlich gleichentags, ein Büchlein des Schweizer Schriftstellers Paul Nizon in die Hände; jemand hatte es in dem Haus, wo ich arbeite, auf einen Tisch gelegt, gratis abzugeben. Nizon schreibt auf, was er in Paris beobachtet, dort lebt er, er spricht also vom Alltag. Er bemerkt einen Randständigen und beginnt nachzudenken. Auf Seite 16 beginnt das (unpolitische) Kapitelchen, das ich jetzt, auch wenn es mir die vorhin gestellte Frage nicht schlüssig beantwortet hat, in voller Kürze für euch abtippe:

Beim hastigen Auslauf hinein in den Morgen, neulich auf der Straße einen Arbeitslosen oder Clochard aus dem Augenwinkel registriert, noch ehe ich sicher sein konnte, daß es sich überhaupt um einen solchen handelte. Er stand vor einem Geschäft, ein Alter, leidlich gut angezogen, vielleicht paßte das Schuhwerk nicht ganz zum übrigen Habitus. Er hätte allerhöchstens ein klein wenig abgerissen wirken können, würde man ihn näher gemustert haben, doch das hatte ich nicht. Ich hatte ihn nicht wirklich angeschaut, und dennoch wußte ich: da steht einer, der nichts zu tun hat, weder Vorhaben noch Pflichten, kein Einkommen, keine Zugehörigkeit, kein Zuhause und sich schämt. Er möchte sich ein selbstverständliches Aussehen geben, mal ein bißchen um sich schauen wie einer, der auf jemanden wartet, und gerade wegen dieses Täuschungsbedürfnisses wirkte der Alte wie mit dicken Einrahmungsbalken ausgestellt. Er hält sich da vor dem Geschäft auf, nachdem er sich von seiner Metrobank erhoben, aus seinem Unterschlupf hinausbegeben, sein Äußeres notdürftig zurechtgetrimmt, vielleicht einen Kaffee getrunken oder sonst einen Schluck gegurgelt hat, und nun beginnt der Tag, der für die Vielen in lauter Zielgeraden zerfällt und mit Tempo geladen ist. Für den Alten fällt alle Beanspruchung weg. Weg fallen alle von Vorgesetzten diktierten Geschäfte, weg die von Aufstiegshoffnungen oder Pflichtendruck gestaute Erwartung, weg der Zeitdruck und Stundenplan. So viel Abwesenheit von Zielen muß sich als eine unendlich ausgedehnte Leere, als niederdrückendes Niemandsland darstellen. Als eine Art Weltmoor. Natürlich war dieses Moor eine Zeitlang von Erinnerungsrasenstücken noch locker durchsetzt, man konnte in Gedanken von einem zum anderen hüpfen, doch sind diese Inselchen festen Grundes inzwischen verkommen, verblichen. Versunken. Statt dessen sind jetzt in das Weltenmoor wie beim Frühmenschen ganz andere Pfade getreten, Trampelpfade des Sammlers und Jägers. Die Pfade sind von Wildwechseln und Fischgründen markiert. Da – die in der Regel ergiebige Abfalltonne vor dem Restaurant, da der mit Zeitungen wohlversorgte Wegwerfbehälter, dort die Ausgabestelle von Suppe, da der Regenunterstand, die besonders nette Parkbank, die ergiebige Bettelstelle. Mitten im hektischen Alltag von Paris im Mai des Jahres 1992 lebt der Alte mit Legionen seinesgleichen, die wie er aus dem normalen Erwerbsleben gefallen, Arbeitslose und Leute ohne feste Adresse, Niemande geworden sind, ein gewissermaßen unsichtbares, den Gesetzen barer Notdurft unterworfenes, jeder Aktualität entfallenes Leben, das jedenfalls nichts mit Sarajewo und nichts mit dem Filmfestival in Cannes, nichts mit innenpolitischen Skandalen und schon gar nichts mit dem werdenden Europa oder dem Jahr Zweitausend zu tun hat. Aus der Aktualität, aus der Zeitrechnung, aus der Zeit gefallen. Aus der Gesellschaft, aus der Geschichte. Ein Leben wie das der Vögel. Paar Ausflüge nach dem nächsten Futterplatz, die Sorge um einen Unterstand für die Nacht, das Requirieren eines Piß- und Scheißplatzes, einer Ruhebank – während immer schnellere Flugzeuge und Weltraumraketen… Die Fliege, die im Hotelzimmer oder Direktionszimmer ihre brummende Bahn zieht, weiß auch nicht Bescheid über den Ehezwist oder die Transaktion, die eben zu dieser Zeit von den Inhabern jener Räume ausgetragen oder verhandelt und im Inneren jener Menschen mit Befürchtungen oder Hoffnungen in eine nahe Zukunft fortgesetzt werden. Für die handelnden Personen ist die Fliege ein störendes Geräusch. Für die Fliege sind die tobenden oder finster dräuenden Zimmerbewohner, wenn überhaupt wahrnehmbar, Schatten oder unförmige Hindernisse zum Umfliegen. Für die Normalverbraucher der Straße ist der zeithabende Arbeitslose und heimliche oder öffentliche Bettler keinen Blick wert oder ein Ärgernis. Für den Bettler? Ich weiß nicht, wie es für den Bettler aussieht. Ein Schluck Wein, ein Unterstand, ein Loch für die Nacht. Ängste.


Paul Nizon, Das Auge des Kuriers. Erschienen 1994 bei Suhrkamp auf 44 Seiten.

 

6 Gedanken zu “Die Fliege ist ein störendes Geräusch

  1. Genau. Verbieten wir das Betteln, denn verschwindet auch automatisch die Armut. Stimmt doch. Oder?
    Ich empfehle den Kantonshäuptlingen, am besten die Armut direkt zu verbieten. Das würde das Problem an der Wurzel packen, man könnte diese geniale Lösung patentieren und in alle Welt exportieren. Von den Lizenzgebühren kann dann das ganze Land in Saus und Braus leben und muß nicht mehr Unterschlupf sein für diese finsteren Finanzverbrecher. Genial!

    Und wer hat’s dann erfunden?

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