Von der Welt unterweltigt

Die Niagarafälle sind in Echt echt enttäuschend. Viel weniger schäumend als auf Fotos. Viel leiser, weniger tosend als auf Youtube-Handyvideos. Und viel kleiner als auf Google Maps. Weit weg sind sie auch, das kommt noch hinzu.

Also lieber gar nicht erst hingehen. Lohnt sich nicht, gibt’s ja alles im Netz, in überwältigender Wucht. Warum sich von der realen Welt enttäuschen, unterwältigen lassen?

Früher, da musste man noch richtig reisen. Es gab kein Internet, also musste man Dinge, von denen einem wichtig war, sie einmal im Leben zu sehen, selber ansehen gehen. Landete dabei aber öfters irgendwo im Kakao, als uns heute lieb wäre. Verplemperte seine Zeit. Lernte dabei immerhin, sofern man Glück hatte, manchmal etwas anderes kennen, schöne, friedliche, nordportugiesische Wälder beispielsweise, wenn man sich erst mal so richtig verfahren hatte. Aus heutiger Sicht unglaublich, wie unstrukturiert man unterwegs war.

Natürlich war man, als es das Internet noch nicht gab, nicht ganz allein, nicht völlig führungslos. Beim Reisen etwa gab es Bücher mit dem Namen Lonely Planet. Ganz bestimmt existierte eines für Portugal, wohl auch eines für die Niagara-Fälle. Die Bücher kaufte man vor der Reise, denn nur dort stand drin, wo man lecker und günstig isst, wo man ein anständiges Bett findet. Das wussten die paar wenigen Autoren, und denen vertraute man.

Ohne Navigationsgerät waren auch Autofahrten noch Fahrten mit ungewissem Ausgang. War das Vorhaben beispielsweise, an ein Konzert in – sagen wir mal – Köln oder Graz oder Lausanne zu fahren, so konnte es sein, dass man nie beim Konzertsaal ankam. Zumindest nicht pünktlich. Links abbiegen und rechts abbiegen und bitte wenden raunte einem keine Computerfrau ins Gesicht, sondern der Beifahrer ins Ohr. Meistens war es bald kein Raunen mehr, sondern ein hier links! oder da hätten wir rechts gemusst!, je knapper die Zeit wurde.

Die beifahrende Person schaute dabei auf eine Faltkarte. Die immer falsch zusammengefaltet war und an den Faltstellen erste Risse aufwies. Die mit einem Koordinatensystem funktionierte, beispielsweise musste das Konzert irgendwo im Feld B9 stattfinden, die Autobahnausfahrt ihrerseits war auf H5, so dass man, wollte man den Fahrer nicht ellbögelnderweise beeinträchtigen, dauernd rauf, runter und seitwärts hin und her falten musste.
Etwas, womit man die Faltkarte hätte anleuchten können, gab es auch noch nicht. Der Schein der Strassenlampen, im Zweieinhalbsekundenrhythmus flackernd, musste reichen.

Wie es die analog Aufgewachsenen geschafft haben, in einer solch unberechenbaren, fiesen, menschenfeindlichen Welt nicht zu verzweifeln, erzählt das Hörbuch Als wir zum Surfen noch ans Meer gefahren sind, erschienen bei (oder im) Random House. Es spricht Christian Ulmen, geschrieben hat das Buch Boris Hänsler. Zumindest nehme ich das an, dass es davon auch ein Buch gibt. Müsste ich aber googeln. Und das lasse ich nach Genuss dieser zwei CDs lieber bleiben. Es gibt so viele schöne Dinge, die man ohne Tastatur erledigen kann. Auf Bäume klettern und so.

 

Boris Hänssler, Als wir zum Surfen noch ans Meer gefahren sind – Unser Leben vor dem Internet, 2016, 2 Stunden und 15 Minuten, Random House Audio.

Nächste Buchbesprechung: hier lang.

 

4 Gedanken zu “Von der Welt unterweltigt

  1. Da kommt mir eine Florida-Reise in den Sinn, die ich vor fast zwanzig Jahren allein als Frau unternommen hatte – ich reise übrigens immer allein und bin meistens sehr angstfrei. ;-) Ich hatte eine riesige Karte von Florida, und lernte frühmorgens vor dem Losfahren stets die Strecke, die ich zurücklegen wollte, auswendig. Die Karte versteckte ich dann auf dem Beifahrersitz unter einer Tageszeitung, denn grad zu jener Zeit hatte man im Sunshine-State etliche Touris umgebracht, und ich wollte nicht als eine solche erkannt werden. ;-)

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